Monika Neumann-Justen. (Bild: Ingrid Bäumer) |
Frau
Neumann-Justen, seit unserem
ersten Interview sind knapp drei Jahre vergangen. Sie haben sich
aus Ihrer Hautarztpraxis zurückgezogen, aber was hat sich in der
Zwischenzeit im therapeutischen Bereich getan?
Monika
Neumann-Justen: Ich habe viele
Anfragen von Skin Pickern erhalten. Unser Gespräch hat mir viele
schwierige, aber auch interessante Patientinnen beschert.
Wie viele
Patienten mit Skin Picking sind denn bei Ihnen in Therapie?
Es sind knapp
zehn Langzeit-Patienten. Ich arbeite tiefenpsychologisch, aber diese
Patienten kommen nicht wie üblich einmal pro Woche, sondern alle
zwei bis vier Wochen zur Behandlung. Meist sagen sie, es werde ihnen
zu viel, es beeinträchtige sie im Alltag. Dadurch ergibt sich eine
lange Dauer, aber bei einer moderaten Stundenzahl.
Wie wirken
Skin Picker auf Sie? Was sind ihre Besonderheiten?
Gemeinsam ist
ihnen ein enormes Kontrollbedürfnis. Meist funktionieren sie auch
gut im Beruf, sind gesellschaftsfähig - trotz des Leidens, das ihr
Skin Picking ihnen verursacht. Und ganz oft findet sich ein
familiärer Hintergrund, der von traumatischen Erlebnissen geprägt
ist: Erfahrungen von Gewalt bis hin zu sexuellen Übergriffen
zwischen dem dritten und elften Lebensjahr, einer Phase, in der das
Kind sich noch nicht wehren kann. Diese Menschen sind geprägt von
Angst, die sie nicht spüren und die sich in hilflose Wut verwandelt
hat. Diese Wut wird gegen die eigene Person gerichtet, zum Beispiel
in Form von Skin Picking. Und ist das erst einmal über Jahre
„eingeübt“, kommt definitiv ein Gewohnheitsfaktor hinzu.
In unserem
ersten Gespräch sagten Sie, dass es manchen Menschen
schwerfalle, Angst von Wut zu unterscheiden. Wie hängt das denn
zusammen?
Wenn ein Kind
Gewalt erlebt, hat es furchtbare Angst. Es erlebt Hilflosigkeit und
Ausweglosigkeit. Damit einher geht aber auch das Gefühl großer Wut
wegen der Ungerechtigkeit dieser Gewalt, oft genug durch die
Menschen, die es am meisten liebt. Doch ein Kind ist nicht stark
genug, um sich zu wehren und es erhält in seiner Hilflosigkeit keine
Unterstützung. So entwickelt es Angst vor der eigenen Wut. Als
Ventil, um Wut und Angst nicht zu fühlen, nutzt es
Selbstverletzungen wie Skin Picking. Zum Glück kommt man in der
Therapie recht leicht an diese Gefühle heran.
Gibt es bei
allen eine Gewalt- oder Missbrauchsgeschichte?
Manchmal gibt es
auch andere Gründe. Eine meiner Patientinnen wurde in ihrem
Elternhaus extrem überbehütet, das reale Leben hat sie dann völlig
überfordert. Skin Picking kann auch im Erwachsenenalter anfangen:
Ein männlicher Patient, erhielt vor ein paar Jahren ein fremdes
Organ transplantiert und muss lebenslang Medikamente nehmen, damit
das Organ nicht abgestoßen wird. Er lehnt diese Medikamente ab, aber
er hat keine Wahl. Auch er fühlt sich machtlos. So richtet er die
Aggression gegen sich selbst und fügt sich Verletzungen zu. Es ist
immer wieder diese hilflose Wut.
Wie gehen Sie
therapeutisch an Skin Picking heran?
Ich arbeite
tiefenpsychologisch, beziehe aber auch verhaltenstherapeutische
Elemente ein. In der Therapie sehe ich Patienten als „Experten in
eigener Sache“ - wir sind also zwei Experten, die zusammenarbeiten,
damit es dem Patienten besser geht.
Welche
Methoden haben sich als effizient erwiesen?
Um gegen den
Gewohnheitsfaktor im Skin Picking an zu arbeiten, empfehlen sich
durchaus verhaltenstherapeutische Mittel. Beispielsweise bitte ich
die Patientin, mit ihren Fingerknöcheln über die Haut zu rubbeln
statt mit den Nägeln zu kratzen, was die Haut aufreißt. Es gibt
viele Möglichkeiten, den Knibbel-Impuls umzuleiten. Ihn zu
unterdrücken, das funktioniert allerdings gar nicht.
Welche
Möglichkeiten gibt es denn noch?
Wenn ein Patient
neu zu mir kommt, probieren wir erst einige verhaltenstherapeutische
Tricks. Zum Beispiel, statt knibbeln im Gesicht ein medizinisches
Peeling verwenden, Chi-Gong-Kugeln in die Hand nehmen und rotieren
lassen - um die Finger beschäftigt zu halten. Oder beim Abschminken
Handschuhe anziehen, um erst gar nicht die Fingernägel einsetzen zu
können. Oder den Badezimmerspiegel mit einer Folie abkleben, damit
man die eigene Haut nicht mehr so genau darin sieht. In manchen
Fällen hilft das schon.
Und wenn es
nicht hilft?
Dann folgt die
nächste Stufe: Ich versuche, den Menschen dazu zu bringen, dass er
sich selbst mit seinem Verhalten akzeptiert. Dazu begeben wir uns auf
eine Entdeckungsreise in seine Psyche: Was waren das für
Situationen, in denen er diese hilflose Wut gespürt hat? Man muss
das respektvoll ansprechen. Überhaupt: Das Allerwichtigste in der
Behandlung ist Respekt. Denn Skin Picking fällt nicht vom Himmel, es
ist eben nicht nur Spannungsabfuhr.
Und über die
kindliche Wut zu sprechen, das funktioniert?
Natürlich nicht
immer. Ein erster Erfolg ist erreicht, wenn ein Patient Trauer fühlen
kann: Trauer um das, was ihm zugestoßen ist. Dann kann er das
Knibbeln meist lassen. In Situationen mit hohem Druck fängt er aber
erfahrungsgemäß wieder damit an. Und dann wird er wütend, hasst
sich selbst. Dieser Hass jedoch steigert nur das Skin Picking.
Deshalb ist es ganz wichtig, dass Patienten lernen, gnädig mit sich
selbst zu sein. Und sich trauen, genau hinzuschauen: Was hat mich
wieder zum Knibbeln bewegt?
Was halten Sie
davon, mit Medikamenten den Knibbeldrang zu vermindern?
Medikamente sind
meiner Meinung nach in der Regel nicht hilfreich.
Verschreibungen werden aber zunehmen, weil Skin Picking im DSM-5
unter „Zwangsstörungen und Ähnliche“ eingeordnet wird. Bei
Zwangsstörungen werden von Psychiatern zum Beispiel selektive
Serotonin- Wiederaufnahme-Hemmer oder trizyklische Antidepressiva
eingesetzt. Diese Medikamente machen bei Skin Pickern eher keinen
Sinn. Der Patient funktioniert dann vielleicht vordergründig besser
in seinem sozialen Umfeld, aber es wird schwerer, an die Ursachen der
Störung heranzukommen.
Sie sprachen
das DSM-5 an, das Diagnosemanual der Amerikanischen Psychiatrischen
Association (APA). Es gilt als Trendsetter für Europa und viele Skin
Picker sind froh, dass das, was ihnen Leiden verursacht, endlich als
eigenständiges Störungsbild anerkannt ist. Sie finden es aber
anscheinend nicht so hilfreich – warum?
Ich warne vor der
Einordnung in die Kategorie „Zwangsstörungen und Verwandte“.
Natürlich hat Skin Picking etwas Zwanghaftes. Aber Zwang ist
allgegenwärtig, bei vielen psychischen Erkrankungen. Er dient der
Abwehr unerwünschter Gefühle wie Angst und Kontrollverlust. Nur
weil jemand einen Zwang entwickelt hat, leidet er also noch lange
nicht unter einer Zwangserkrankung. Hier wird Missverständnissen Tür
und Tor geöffnet.
Wo wäre Skin
Picking denn besser aufgehoben?
Vorher galt Skin
Picking als Impulskontrollstörung - und dahin passt es meiner
Meinung nach auch viel besser. Und es ist eine so himmlisch
unverständliche Diagnose: Sie stigmatisiert die Patienten nicht so
sehr. Zwangsstörungen dagegen gelten als schwer therapierbar. Ein
Patient, bei dem eine Zwangsstörung diagnostiziert wird, fällt
gleich in eine prognostisch ungünstige Gruppe.
Und was
bedeutet das für den Betroffenen?
Er findet
vielleicht keinen Therapeuten, weil die Behandlung von
Zwangsstörungen bei Therapeuten als anstrengend und nur mäßig
erfolgversprechend gilt. Noch schlimmer wird es, wenn ein Arzt oder
Psychologe einem Patienten attestiert, er hätte eine „zwanghafte
Persönlichkeitsstörung“. Denn die gilt als noch schwerer
therapierbar. Skin Picker haben jedoch in den meisten Fällen gar
keine so schwerwiegende Störung. Die Einsicht in die eigene Störung
unterscheidet Skin Picker deutlich von Menschen mit
Persönlichkeitsstörungen. Meistens funktionieren sie ja auch sehr
gut im beruflichen Umfeld. Wie Sie sehen: Es gibt Diagnosen, die dem
Patienten mehr schaden als nützen.
Warum haben
dann die Autoren des DSM-5 Skin Picking dann Ihrer Meinung nach in
der Nähe bei den Zwangsstörungen untergebracht?
Hier sprechen Sie
ein ganz heißes Eisen an. Besonders in Europa gibt es Kritik am
DSM-5: Viele der maßgeblichen Autoren sollen der Pharma-Industrie
nahestehen, forschen beispielsweise für Pharmafirmen oder erhalten
Vortragshonorare. Europäische Psychotherapeuten sehen die Gefahr,
dass immer mehr Menschen Medikamente erhalten, wenn im DSM-5 die
Kategorie der Zwangsstörungen so sehr ausgeweitet wird: Zur
Behandlung werden dann ja fast regelhaft Psychopharmaka empfohlen.
http://meine-haut.blogspot.com/2015/01/es-ist-diese-hilflose-wut.html
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen