Freitag, 24. Oktober 2014

Kampf am Frühstückstisch - Beziehungen im Zwang

Jeden Morgen schon ein Kampf am Frühstückstisch, so sah die Beziehung zwischen Frank und Katrin S. noch vor einigen Jahren aus. "Hast du dir die Hände gewaschen?", fragt Katrin, als er ihr das Kaffeemilch-Kännchen reicht. Die Frage hat Frank schon befürchtet, denn Katrin ist zwangskrank, sie hat Wasch-und Kontrollzwänge. Jetzt wähnt sie, auf Franks ungewaschener Hand würden sich gefährliche Bakterien tummeln. Mit dem Griff zum Milchkännchen, so ihre Zwangsgedanken, hat er das Porzellan kontaminiert. "Ich halte das nicht mehr lange aus!", explodiert Frank. "Du weißt, dass ich mir die Hände gewaschen habe. Ich wasch mir die Hände immer!" Doch es nützt nichts: Schon wieder entspinnt sich ein aufwendiges Reinigungsritual, das letztlich dazu führt, dass beide zu spät zur Arbeit kommen.

Katrin und Frank spielen im Workshop einen Beziehungsstreit vor. Bild: Ingrid Bäumer

Diesen Frühstücksterror spielt das junge Paar einem 18-köpfigen Publikum vor. Wir befinden uns in der Schön Klinik Bad Bramstedt, wo die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen eine Fachtagung über Zwänge und Zwangsspektrumsstörungen abhält.** Frank und Katrin sind keine Therapeuten, sie waren jahrelang selbst betroffen: Katrin war lange zwangskrank, hat dies aber überwunden, unter anderem mit Hilfe einer stationären Therapie. Und Frank ist ihr langjähriger Partner, der trotz aller Belastungen immer zu ihr gehalten hat. Wie hält man es aus mit einem Menschen, der sich im Gefängnis des Zwangs befindet und der sogar seinen Partner in die verrücktesten "Zwangsvorschriften" einbezieht ?

Seit Skin Picking im DSM-5 erstmals als eigene Diagnose geführt wird, ist es eingegliedert in die Gruppe "Zwangserkrankungen und verwandte Störungen". Da ist es nur normal, Ähnlichkeiten zwischen Zwängen und Skin Picking zu suchen. Kann man Beziehungen zwischen "Gesunden" und Zwangskranken mit Beziehungen zwischen Gesunden und Skin Pickern vergleichen?

Sehr ähnlich sind sich Picker und Zwängler in dem, was sie sich von ihrem Partner wünschen, so ein Ergebnis des Seminars. "Keine dummen Sprüche", steht auf der langen Wunschliste. Und auch: "Verständnis, liebevoller Druck, keine Vorwürfe, geliebt werden, so wie ich bin."

Holger* hat magische Zwangsgedanken, die er auch ausagieren muss. So muss er aus Angst vor anderweitigen schlimmen Konsequenzen immer wieder einen Türrahmen berühren. Er hat mit seiner langjährigen Partnerin ausgemacht, dass sie ihm Zeit und Ruhe lässt, wenn sie sieht, dass er wieder zwängelt. "Sie erkennt an, dass es eine Krankheit ist", sagt Holger. "Wir haben beschlossen, dass sie mir bei meinen Zwängen nicht helfen kann - und ich will sie damit nicht belasten."

Doch wie soll diese saubere Abgrenzung funktionieren, wenn der Angehörige "nicht mitspielt"? Silke* berichtet von ihren Reinlichkeitszwängen: Was auf den Boden gefallen ist, das ist für sie kontaminiert. Sie kann es nicht mehr anfassen aus Angst, sich mit Krankheitserregern zu infizieren. Doch wenn ihr Freund sich morgens anzieht, lässt er achtlos den Schlafanzug auf den Boden fallen. "Schon oft habe ich ihm gesagt, er soll  ihn doch bitte über den Stuhl hängen", erzählt Silke. "Doch er ignoriert das einfach." Für die voll berufstätige Vierzigjährige heißt das: Noch mehr Zeit und Energie gehen drauf für aufwendige Dekontaminierungs-Rituale.

Natürlich, hakt Seminarleiterin Katrin ein, wünschen sich viele Betroffene, dass ihre Partner es ihnen nicht noch schwerer machen. Aber wenn die Partner einbezogen werden und sich dem Zwang gemäß verhalten, geben sie ihm damit neue Nahrung.

Ein Dilemma. Wo ist der Ausweg? Vielleicht dürfen die Wünsche, die ein Zwangskranker an den Partner richtet, nicht zu belastend sein, sollten aber zugleich eine große helfende Wirkung im Alltag haben. "Ziel sollte es sein, gemeinsame Absprachen zu treffen, mit denen sowohl der Betroffene als auch der Angehörige zufrieden ist", fasst Katrin zusammen. Wie bei diesem beispielhaften Deal: "Wenn du schon deine Bohrmaschine auf den Tisch legst, dann häng' doch bitte deinen Schlafanzug auf den Stuhl und schmeiß ihn nicht auf den Boden." 
Denkbar ist auch, eine Zwangshierarchie aufzustellen: Diese Zwänge sind so groß, dass ich noch nicht dagegen ankomme, doch an andere könnte ich mich mal herantrauen. "Offen miteinander reden, sich gegenseitig Freiräume geben, nicht auf verhärteten Standpunkten stehenbleiben", empfiehlt Katrin beiden Seiten. Und vor allem: "das Positive in der Beziehung nutzen, um den Zwang zu minimieren."

Was können Skin Picker aus diesem Seminar mitnehmen?


Bei allen Gemeinsamkeiten: Der größte Unterschied ist aus meiner Sicht, dass Skin Picker versuchen, ihr zwanghaftes Verhalten, das Bearbeiten der eigenen Haut, mit sich selbst auszumachen - schon allein aus Scham. Sie sind bemüht, die Folgen vor dem Partner zu verbergen, also die wunden, verletzten, geröteten Hautstellen. Während Zwangskranke manchmal auch eine strapazierte Haut haben, die beispielsweise wegen exzessiven Duschens extrem ausgetrocknet ist und in Placken abgezogen werden kann, ist es vor allem die Natur einiger Zwänge, die danach verlangt, sich auf das soziale Umfeld des Kranken auszudehnen. Zwar versuchen sie aus Scham, ihr Zwängeln vor dem Partner zu verbergen. Doch der Zwang ist oft wie ein hungriges Monster, das immer mehr Futter verlangt - und vom Partner ebenfalls ein ihm gemäßes Verhalten. Dagegen ziehen Skin Picker sich eher zurück - damit ihr Partner nicht die Folgen der Selbstmanipulation bemerkt. 

Doch nicht immer kann man sich schminken oder, wenn man nackt ist, das Licht ausmachen - so dass der Partner eines Skin Pickers vor allem damit leben muss, gelegentlich die Folgen der zwanghaften Haut-Manipulation zu sehen. Selten wird er Zeuge der tatsächlichen Handlung, und auch dann bleibt er Zuschauer, wird nicht aktiv einbezogen. Es sei denn, als Opfer des Knibbel-Drangs: Manche Picker haben das Verlangen, auch die Haut ihres Partners zu bearbeiten. Sie stürzen sich auf Pickel, Mitesser und alle anderen Unebenheiten beim Anderen. Das ist eine übergriffige Handlung, zumal wenn sich die Betroffenen vom ¨Nein¨ des Partners nicht abwimmeln lassen. Aber das sind eher seltene Fälle, während es bei der klassischen Zwangserkrankung die Norm zu sein scheint, dass der Partner in das Zwangssystem einbezogen wird.

 
Und so wäre es sicherlich auch keine Lösung für Picker, wenn sie ihr Knibbeln und Quetschen allein mit sich selbst ausmachen. Von ihrem Partner brauchen sie zumindest eine Gewissheit: dass sie auch mit ihren Macken geliebt werden. Und darin sind sie sich mit den Zwangskranken wieder einig. Oder, wie Holger es formuliert: "Was, wenn ich bis an mein Lebensende nicht von diesem Zwang freikomme? Das ist ganz wichtig zu klären: Kann mein Partner auch dann mit mir zusammen leben?"


* Name geändert
** Die Tagung fand vom 26. bis 27. September 2014 statt

Ich habe Katrin S. den Text zu lesen gegeben, da ich nur aus der Warte der von Skin Picking Betroffenen sprechen kann. Der Text enthält einige Aussagen über Zwänge, die nur meinen Eindruck wiedergeben, den ich aus dem Seminar mitgenommen habe. Darum hier Katrins Kommentar zu dem Text:

Es lässt sich so pauschal nicht sagen, dass die Partner/Angehörigen grundsätzlich mit ins Zwangssystem einbezogen werden. Auch hier gehören ja immer zwei dazu – der eine, der den Wunsch der Unterstützung äußert und derjenige, der diesem Wunsch nachkommt. Hier ist jeder für sein eigenes Handeln verantwortlich.

Eine lange Zeit machen auch Zwangsbetroffene alles mit sich allein aus, ebenfalls aus Scham. Schwierig wird es erst dann, wenn der Zwang zum einen nicht mehr zu verheimlichen ist (vergleichbar mit dem Sichtbarwerden von Skin Picking), zum Beispiel weil zu viele Zwänge auf einmal auftauchen oder der Zwang an sich zu stark ist, so dass er auch für andere offensichtlich wird.

Dann kann es sein, dass Partner/Angehörige um Unterstützung gebeten werden, weil es dem Betroffenen so scheint, als könne er das alles allein nicht mehr bewältigen. Die Unterstützung des Partners wird dann als Entlastung empfunden. Schwierig ist es ebenfalls, wenn gemeinsame Lebensbereiche betroffen sind – so beispielsweise, wenn Dinge des Anderen berührt werden und der Betroffene dieses nur schlecht oder gar nicht aushalten kann, weil sie für ihn gedanklich „kontaminiert“ sind.

Es gibt aber auch Zwänge, bei denen der Partner fast keine Unterstützung leisten kann, selbst, wenn er es wollte – so ist es beispielsweise bei Gedankenzwängen, bei denen keine sichtbare Handlung erfolgt, sondern allein die Zwangsgedanken gedanklich „bearbeitet“ werden müssen.
Ich weiß nicht, wie es beim Skin Picking ist – ist die eigentliche Handlung manchmal positiv besetzt (so wie es bei der Trichotillomanie manchmal ist)? Wenn es so ist, wäre dies wohl ein Unterscheidungsmerkmal: die Zwangsgedanken und -handlungen werden als quälend und belastend empfunden, das Gefühl der Erleichterung tritt erst ein, nachdem Gedanken und Handlungen durchgeführt und abgeschlossen wurden ... bis zum nächsten Zwangsgedanken.
Wichtig finde ich, dass beide Partner sich immer wieder ihrer eigenen Grenzen (auch Belastungsgrenzen) bewusst werden und diese auch ganz offen kommunizieren, um so zu gemeinsamen Absprachen zu gelangen. Du hast ja ebenfalls beschrieben, dass es eine klare Grenzüberschreitung ist, den Partner beim Picking einzubeziehen, selbst wenn dieser ein klares Nein geäußert hat. Das ist vergleichbar mit der Bitte eines Zwangsbetroffenen an seinen Partner, ihn zu unterstützen oder irgendetwas zu unterlassen. Der Partner kann dann dieser Bitte nachkommen, um dem Betroffenen zu helfen oder auch manchmal, um selbst eben „seine Ruhe zu haben.“ Wenn der Partner jedoch klare Grenzen setzt, wozu er bereit ist und wozu eben nicht, so wäre es für beide Seiten hilfreich, diese Grenzen zu respektieren. Obwohl gerade dies, wie wir ja im Workshop gesehen haben, nicht immer einfach ist.

Selbsthilfe ist grundsätzlich ein guter Berater. Eine Selbsthilfegruppe besuchen, sich mit Hilfe von Literatur schlau machen, eine eigene Zwangshierarchie aufstellen, Expositionen in Eigenregie oder im Rahmen einer ambulanten oder stationären Therapie) durchführen. 

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