Posts mit dem Label Zwänge werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Zwänge werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 19. Januar 2015

"Es ist diese hilflose Wut"

Interview mit Monika Neumann-Justen, 64, Psychotherapeutin und Hautärztin, Bonn

Monika Neumann-Justen. (Bild: Ingrid Bäumer)
Frau Neumann-Justen, seit unserem ersten Interview sind knapp drei Jahre vergangen. Sie haben sich aus Ihrer Hautarztpraxis zurückgezogen, aber was hat sich in der Zwischenzeit im therapeutischen Bereich getan?

Monika Neumann-Justen: Ich habe viele Anfragen von Skin Pickern erhalten. Unser Gespräch hat mir viele schwierige, aber auch interessante Patientinnen beschert.

Wie viele Patienten mit Skin Picking sind denn bei Ihnen in Therapie?

Es sind knapp zehn Langzeit-Patienten. Ich arbeite tiefenpsychologisch, aber diese Patienten kommen nicht wie üblich einmal pro Woche, sondern alle zwei bis vier Wochen zur Behandlung. Meist sagen sie, es werde ihnen zu viel, es beeinträchtige sie im Alltag. Dadurch ergibt sich eine lange Dauer, aber bei einer moderaten Stundenzahl.

Wie wirken Skin Picker auf Sie? Was sind ihre Besonderheiten?

Gemeinsam ist ihnen ein enormes Kontrollbedürfnis. Meist funktionieren sie auch gut im Beruf, sind gesellschaftsfähig - trotz des Leidens, das ihr Skin Picking ihnen verursacht. Und ganz oft findet sich ein familiärer Hintergrund, der von traumatischen Erlebnissen geprägt ist: Erfahrungen von Gewalt bis hin zu sexuellen Übergriffen zwischen dem dritten und elften Lebensjahr, einer Phase, in der das Kind sich noch nicht wehren kann. Diese Menschen sind geprägt von Angst, die sie nicht spüren und die sich in hilflose Wut verwandelt hat. Diese Wut wird gegen die eigene Person gerichtet, zum Beispiel in Form von Skin Picking. Und ist das erst einmal über Jahre „eingeübt“, kommt definitiv ein Gewohnheitsfaktor hinzu.

In unserem ersten Gespräch sagten Sie, dass es manchen Menschen schwerfalle, Angst von Wut zu unterscheiden. Wie hängt das denn zusammen?

Wenn ein Kind Gewalt erlebt, hat es furchtbare Angst. Es erlebt Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit. Damit einher geht aber auch das Gefühl großer Wut wegen der Ungerechtigkeit dieser Gewalt, oft genug durch die Menschen, die es am meisten liebt. Doch ein Kind ist nicht stark genug, um sich zu wehren und es erhält in seiner Hilflosigkeit keine Unterstützung. So entwickelt es Angst vor der eigenen Wut. Als Ventil, um Wut und Angst nicht zu fühlen, nutzt es Selbstverletzungen wie Skin Picking. Zum Glück kommt man in der Therapie recht leicht an diese Gefühle heran.

Gibt es bei allen eine Gewalt- oder Missbrauchsgeschichte?

Manchmal gibt es auch andere Gründe. Eine meiner Patientinnen wurde in ihrem Elternhaus extrem überbehütet, das reale Leben hat sie dann völlig überfordert. Skin Picking kann auch im Erwachsenenalter anfangen: Ein männlicher Patient, erhielt vor ein paar Jahren ein fremdes Organ transplantiert und muss lebenslang Medikamente nehmen, damit das Organ nicht abgestoßen wird. Er lehnt diese Medikamente ab, aber er hat keine Wahl. Auch er fühlt sich machtlos. So richtet er die Aggression gegen sich selbst und fügt sich Verletzungen zu. Es ist immer wieder diese hilflose Wut.

Wie gehen Sie therapeutisch an Skin Picking heran?

Ich arbeite tiefenpsychologisch, beziehe aber auch verhaltenstherapeutische Elemente ein. In der Therapie sehe ich Patienten als „Experten in eigener Sache“ - wir sind also zwei Experten, die zusammenarbeiten, damit es dem Patienten besser geht.

Welche Methoden haben sich als effizient erwiesen?

Um gegen den Gewohnheitsfaktor im Skin Picking an zu arbeiten, empfehlen sich durchaus verhaltenstherapeutische Mittel. Beispielsweise bitte ich die Patientin, mit ihren Fingerknöcheln über die Haut zu rubbeln statt mit den Nägeln zu kratzen, was die Haut aufreißt. Es gibt viele Möglichkeiten, den Knibbel-Impuls umzuleiten. Ihn zu unterdrücken, das funktioniert allerdings gar nicht.

Welche Möglichkeiten gibt es denn noch?

Wenn ein Patient neu zu mir kommt, probieren wir erst einige verhaltenstherapeutische Tricks. Zum Beispiel, statt knibbeln im Gesicht ein medizinisches Peeling verwenden, Chi-Gong-Kugeln in die Hand nehmen und rotieren lassen - um die Finger beschäftigt zu halten. Oder beim Abschminken Handschuhe anziehen, um erst gar nicht die Fingernägel einsetzen zu können. Oder den Badezimmerspiegel mit einer Folie abkleben, damit man die eigene Haut nicht mehr so genau darin sieht. In manchen Fällen hilft das schon.

Und wenn es nicht hilft?

Dann folgt die nächste Stufe: Ich versuche, den Menschen dazu zu bringen, dass er sich selbst mit seinem Verhalten akzeptiert. Dazu begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise in seine Psyche: Was waren das für Situationen, in denen er diese hilflose Wut gespürt hat? Man muss das respektvoll ansprechen. Überhaupt: Das Allerwichtigste in der Behandlung ist Respekt. Denn Skin Picking fällt nicht vom Himmel, es ist eben nicht nur Spannungsabfuhr.

Und über die kindliche Wut zu sprechen, das funktioniert?

Natürlich nicht immer. Ein erster Erfolg ist erreicht, wenn ein Patient Trauer fühlen kann: Trauer um das, was ihm zugestoßen ist. Dann kann er das Knibbeln meist lassen. In Situationen mit hohem Druck fängt er aber erfahrungsgemäß wieder damit an. Und dann wird er wütend, hasst sich selbst. Dieser Hass jedoch steigert nur das Skin Picking. Deshalb ist es ganz wichtig, dass Patienten lernen, gnädig mit sich selbst zu sein. Und sich trauen, genau hinzuschauen: Was hat mich wieder zum Knibbeln bewegt?

Was halten Sie davon, mit Medikamenten den Knibbeldrang zu vermindern?

Medikamente sind meiner Meinung nach in der Regel nicht hilfreich. Verschreibungen werden aber zunehmen, weil Skin Picking im DSM-5 unter „Zwangsstörungen und Ähnliche“ eingeordnet wird. Bei Zwangsstörungen werden von Psychiatern zum Beispiel selektive Serotonin- Wiederaufnahme-Hemmer oder trizyklische Antidepressiva eingesetzt. Diese Medikamente machen bei Skin Pickern eher keinen Sinn. Der Patient funktioniert dann vielleicht vordergründig besser in seinem sozialen Umfeld, aber es wird schwerer, an die Ursachen der Störung heranzukommen.

Sie sprachen das DSM-5 an, das Diagnosemanual der Amerikanischen Psychiatrischen Association (APA). Es gilt als Trendsetter für Europa und viele Skin Picker sind froh, dass das, was ihnen Leiden verursacht, endlich als eigenständiges Störungsbild anerkannt ist. Sie finden es aber anscheinend nicht so hilfreich – warum?

Ich warne vor der Einordnung in die Kategorie „Zwangsstörungen und Verwandte“. Natürlich hat Skin Picking etwas Zwanghaftes. Aber Zwang ist allgegenwärtig, bei vielen psychischen Erkrankungen. Er dient der Abwehr unerwünschter Gefühle wie Angst und Kontrollverlust. Nur weil jemand einen Zwang entwickelt hat, leidet er also noch lange nicht unter einer Zwangserkrankung. Hier wird Missverständnissen Tür und Tor geöffnet.

Wo wäre Skin Picking denn besser aufgehoben?

Vorher galt Skin Picking als Impulskontrollstörung - und dahin passt es meiner Meinung nach auch viel besser. Und es ist eine so himmlisch unverständliche Diagnose: Sie stigmatisiert die Patienten nicht so sehr. Zwangsstörungen dagegen gelten als schwer therapierbar. Ein Patient, bei dem eine Zwangsstörung diagnostiziert wird, fällt gleich in eine prognostisch ungünstige Gruppe.

Und was bedeutet das für den Betroffenen?

Er findet vielleicht keinen Therapeuten, weil die Behandlung von Zwangsstörungen bei Therapeuten als anstrengend und nur mäßig erfolgversprechend gilt. Noch schlimmer wird es, wenn ein Arzt oder Psychologe einem Patienten attestiert, er hätte eine „zwanghafte Persönlichkeitsstörung“. Denn die gilt als noch schwerer therapierbar. Skin Picker haben jedoch in den meisten Fällen gar keine so schwerwiegende Störung. Die Einsicht in die eigene Störung unterscheidet Skin Picker deutlich von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Meistens funktionieren sie ja auch sehr gut im beruflichen Umfeld. Wie Sie sehen: Es gibt Diagnosen, die dem Patienten mehr schaden als nützen.

Warum haben dann die Autoren des DSM-5 Skin Picking dann Ihrer Meinung nach in der Nähe bei den Zwangsstörungen untergebracht?

Hier sprechen Sie ein ganz heißes Eisen an. Besonders in Europa gibt es Kritik am DSM-5: Viele der maßgeblichen Autoren sollen der Pharma-Industrie nahestehen, forschen beispielsweise für Pharmafirmen oder erhalten Vortragshonorare. Europäische Psychotherapeuten sehen die Gefahr, dass immer mehr Menschen Medikamente erhalten, wenn im DSM-5 die Kategorie der Zwangsstörungen so sehr ausgeweitet wird: Zur Behandlung werden dann ja fast regelhaft Psychopharmaka empfohlen.

Permalink dieses Blogposts:
http://meine-haut.blogspot.com/2015/01/es-ist-diese-hilflose-wut.html

Dienstag, 13. Januar 2015

Skin Picking Newsletter Januar 2015

Frohes neues Jahr allerseits! :)

Inhalt:
  1. Unser nächstes Treffen
  2. Bitte macht mit! Studie zur Diagnose von Skin Picking
  3. "Mein Leben mit Skin Picking" - tolles Blog einer 17-Jährigen
  4. Geplante Aktivitäten für 2015
  5. Artikel über Skin Picking im "Ärzteblatt"
  6. Weitere Treff-Termine
--
  1. Das nächste Treffen unserer Selbsthilfegruppe ist am
Montag, 19. Januar 2015
19 Uhr
im "gesundheitsladen köln", Venloer Straße 46, Erdgeschoss

Leicht erreichbar mit Stadtbahn-Linie 5 (Haltestelle Hans-Böckler-Platz) und per S-Bahn (Haltestelle Bahnhof West).
Eingeladen sind wie immer alle von Dermatillomanie (Skin Picking, Acné excoriée) und Trichotillomanie Betroffenen. <3

--
  1. Bitte macht mit: Fragebogen zur Diagnose von Skin Picking!

    Christina Gallinat studiert Psychologie an der Universität Heidelberg. Für ihre Masterarbeit hat sie sich einen englischsprachigen Diagnose-Fragebogen für Skin Picking vorgenommen: Sie untersucht, ob man ihn für Deutschland übernehmen kann. Dazu hat sie den Fragebogen übersetzt und zum anonymen Ausfüllen ins Netz gestellt. Je mehr Menschen ihn ausfüllen, umso aussagekräftiger sind die Ergebnisse!

    Link zum Fragebogen: https://www.soscisurvey.de/HautundWohlbefinden/

    Im zweiten Schritt wird gefragt, wie sinnvoll der Fragebogen ist und ob er in der praktischen Arbeit nützt.
    Das Ausfüllen dauert 10 bis 15 Minuten.
    Und hier geht's zum Fragebogen: https://www.soscisurvey.de/HautundWohlbefinden
--
  1. "Mein Leben mit Skin Picking" - tolles Blog
"Ich habe mich getraut!" Jacqueline ist stolz auf sich, denn sie ist ungeschminkt ins Theater gegangen. In ihrem Blog "Mein Leben mit Skin Picking" berichtet die junge Frau von ihren Erlebnissen.
Profilfoto von Jacqueline. Link zum Blog: http://mein-leben-mit-skinpicking.blogspot.de/
Das macht Mut und ist sehr lesenswert!

--
  1. Geplante Aktivitäten der Selbsthilfegruppe für 2015

    Ich freue mich, dass ich in diesem Jahr so viele Anregungen erhalten habe – Und hier sind die Vorschläge:
    - Vortrag einer Hypnotherapeutin – was kann Hypnose bei Skin Picking leisten?
    - Vortrag einer Ernährungsberaterin – hängen Hautbild und Ernährung zusammen?
    - Vortrag einer Hautärztin: Was sind die körperlichen Aspekte von Skin Picking, welche Hautpflege empfhiehlt sie, was kann man mit Medikamenten erreichen?
    - Vortrag einer Therapeutin über die "Bürokratie" rund um Psychotherapie: Welche unterschiedlichen Therapieformen gibt es, welche davon sind für Skin Picking besonders geeignet, wie verläuft die nervenaufreibende Therapeutensuche möglichst kurz und stressfrei?
Ob wir das alles in diesem Jahr schaffen, weiß ich nicht – aber die Themen bleiben ja auch 2016 aktuell ;) Wenn Termine gesetzt sind, erfahrt ihr es hier im Newsletter.

Vielen Dank an alle, die mitgemacht haben!

--
  1. Artikel im Ärzteblatt über Skin Picking
Je mehr Fachleute über Skin Picking erfahren, desto besser für Betroffene. Deshalb ist es sehr erfreulich, dass das "Ärzteblatt" einen langen Artikel über Skin Picking in seiner Dezemberausgabe gebracht hat. Auch wenn er nicht ganz aktuell ist: Die Autorin ordnet Skin Picking den Impulskontrollstörungen zu. Es fehlt jeder Hinweis darauf, dass Skin Picking im amerikanischen Diagnosemanual DSM-5 inzwischen unter "Zwangsstörungen und Verwandte" einsortiert ist – ob zurecht oder nicht, ist dann noch mal eine andere Frage.

Hier der Link zum Text:  http://www.aerzteblatt.de/archiv/165551

--
  1. Weitere Treff-Termine der Selbsthilfebgruppe – zum Eintragen in den Kalender:
    Montag, 16. Februar, 19 Uhr
    Montag, 16. März, 19 Uhr
    Montag, 20. April, 19 Uhr
--
So, das war's schon wieder!
Einen schönen Start in 2015 wünscht euch
das Krätzchen

Permalink dieses Posts:

Freitag, 24. Oktober 2014

Kampf am Frühstückstisch - Beziehungen im Zwang

Jeden Morgen schon ein Kampf am Frühstückstisch, so sah die Beziehung zwischen Frank und Katrin S. noch vor einigen Jahren aus. "Hast du dir die Hände gewaschen?", fragt Katrin, als er ihr das Kaffeemilch-Kännchen reicht. Die Frage hat Frank schon befürchtet, denn Katrin ist zwangskrank, sie hat Wasch-und Kontrollzwänge. Jetzt wähnt sie, auf Franks ungewaschener Hand würden sich gefährliche Bakterien tummeln. Mit dem Griff zum Milchkännchen, so ihre Zwangsgedanken, hat er das Porzellan kontaminiert. "Ich halte das nicht mehr lange aus!", explodiert Frank. "Du weißt, dass ich mir die Hände gewaschen habe. Ich wasch mir die Hände immer!" Doch es nützt nichts: Schon wieder entspinnt sich ein aufwendiges Reinigungsritual, das letztlich dazu führt, dass beide zu spät zur Arbeit kommen.

Katrin und Frank spielen im Workshop einen Beziehungsstreit vor. Bild: Ingrid Bäumer

Diesen Frühstücksterror spielt das junge Paar einem 18-köpfigen Publikum vor. Wir befinden uns in der Schön Klinik Bad Bramstedt, wo die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen eine Fachtagung über Zwänge und Zwangsspektrumsstörungen abhält.** Frank und Katrin sind keine Therapeuten, sie waren jahrelang selbst betroffen: Katrin war lange zwangskrank, hat dies aber überwunden, unter anderem mit Hilfe einer stationären Therapie. Und Frank ist ihr langjähriger Partner, der trotz aller Belastungen immer zu ihr gehalten hat. Wie hält man es aus mit einem Menschen, der sich im Gefängnis des Zwangs befindet und der sogar seinen Partner in die verrücktesten "Zwangsvorschriften" einbezieht ?

Seit Skin Picking im DSM-5 erstmals als eigene Diagnose geführt wird, ist es eingegliedert in die Gruppe "Zwangserkrankungen und verwandte Störungen". Da ist es nur normal, Ähnlichkeiten zwischen Zwängen und Skin Picking zu suchen. Kann man Beziehungen zwischen "Gesunden" und Zwangskranken mit Beziehungen zwischen Gesunden und Skin Pickern vergleichen?

Sehr ähnlich sind sich Picker und Zwängler in dem, was sie sich von ihrem Partner wünschen, so ein Ergebnis des Seminars. "Keine dummen Sprüche", steht auf der langen Wunschliste. Und auch: "Verständnis, liebevoller Druck, keine Vorwürfe, geliebt werden, so wie ich bin."

Holger* hat magische Zwangsgedanken, die er auch ausagieren muss. So muss er aus Angst vor anderweitigen schlimmen Konsequenzen immer wieder einen Türrahmen berühren. Er hat mit seiner langjährigen Partnerin ausgemacht, dass sie ihm Zeit und Ruhe lässt, wenn sie sieht, dass er wieder zwängelt. "Sie erkennt an, dass es eine Krankheit ist", sagt Holger. "Wir haben beschlossen, dass sie mir bei meinen Zwängen nicht helfen kann - und ich will sie damit nicht belasten."

Doch wie soll diese saubere Abgrenzung funktionieren, wenn der Angehörige "nicht mitspielt"? Silke* berichtet von ihren Reinlichkeitszwängen: Was auf den Boden gefallen ist, das ist für sie kontaminiert. Sie kann es nicht mehr anfassen aus Angst, sich mit Krankheitserregern zu infizieren. Doch wenn ihr Freund sich morgens anzieht, lässt er achtlos den Schlafanzug auf den Boden fallen. "Schon oft habe ich ihm gesagt, er soll  ihn doch bitte über den Stuhl hängen", erzählt Silke. "Doch er ignoriert das einfach." Für die voll berufstätige Vierzigjährige heißt das: Noch mehr Zeit und Energie gehen drauf für aufwendige Dekontaminierungs-Rituale.

Natürlich, hakt Seminarleiterin Katrin ein, wünschen sich viele Betroffene, dass ihre Partner es ihnen nicht noch schwerer machen. Aber wenn die Partner einbezogen werden und sich dem Zwang gemäß verhalten, geben sie ihm damit neue Nahrung.

Ein Dilemma. Wo ist der Ausweg? Vielleicht dürfen die Wünsche, die ein Zwangskranker an den Partner richtet, nicht zu belastend sein, sollten aber zugleich eine große helfende Wirkung im Alltag haben. "Ziel sollte es sein, gemeinsame Absprachen zu treffen, mit denen sowohl der Betroffene als auch der Angehörige zufrieden ist", fasst Katrin zusammen. Wie bei diesem beispielhaften Deal: "Wenn du schon deine Bohrmaschine auf den Tisch legst, dann häng' doch bitte deinen Schlafanzug auf den Stuhl und schmeiß ihn nicht auf den Boden." 
Denkbar ist auch, eine Zwangshierarchie aufzustellen: Diese Zwänge sind so groß, dass ich noch nicht dagegen ankomme, doch an andere könnte ich mich mal herantrauen. "Offen miteinander reden, sich gegenseitig Freiräume geben, nicht auf verhärteten Standpunkten stehenbleiben", empfiehlt Katrin beiden Seiten. Und vor allem: "das Positive in der Beziehung nutzen, um den Zwang zu minimieren."

Was können Skin Picker aus diesem Seminar mitnehmen?


Bei allen Gemeinsamkeiten: Der größte Unterschied ist aus meiner Sicht, dass Skin Picker versuchen, ihr zwanghaftes Verhalten, das Bearbeiten der eigenen Haut, mit sich selbst auszumachen - schon allein aus Scham. Sie sind bemüht, die Folgen vor dem Partner zu verbergen, also die wunden, verletzten, geröteten Hautstellen. Während Zwangskranke manchmal auch eine strapazierte Haut haben, die beispielsweise wegen exzessiven Duschens extrem ausgetrocknet ist und in Placken abgezogen werden kann, ist es vor allem die Natur einiger Zwänge, die danach verlangt, sich auf das soziale Umfeld des Kranken auszudehnen. Zwar versuchen sie aus Scham, ihr Zwängeln vor dem Partner zu verbergen. Doch der Zwang ist oft wie ein hungriges Monster, das immer mehr Futter verlangt - und vom Partner ebenfalls ein ihm gemäßes Verhalten. Dagegen ziehen Skin Picker sich eher zurück - damit ihr Partner nicht die Folgen der Selbstmanipulation bemerkt. 

Doch nicht immer kann man sich schminken oder, wenn man nackt ist, das Licht ausmachen - so dass der Partner eines Skin Pickers vor allem damit leben muss, gelegentlich die Folgen der zwanghaften Haut-Manipulation zu sehen. Selten wird er Zeuge der tatsächlichen Handlung, und auch dann bleibt er Zuschauer, wird nicht aktiv einbezogen. Es sei denn, als Opfer des Knibbel-Drangs: Manche Picker haben das Verlangen, auch die Haut ihres Partners zu bearbeiten. Sie stürzen sich auf Pickel, Mitesser und alle anderen Unebenheiten beim Anderen. Das ist eine übergriffige Handlung, zumal wenn sich die Betroffenen vom ¨Nein¨ des Partners nicht abwimmeln lassen. Aber das sind eher seltene Fälle, während es bei der klassischen Zwangserkrankung die Norm zu sein scheint, dass der Partner in das Zwangssystem einbezogen wird.

 
Und so wäre es sicherlich auch keine Lösung für Picker, wenn sie ihr Knibbeln und Quetschen allein mit sich selbst ausmachen. Von ihrem Partner brauchen sie zumindest eine Gewissheit: dass sie auch mit ihren Macken geliebt werden. Und darin sind sie sich mit den Zwangskranken wieder einig. Oder, wie Holger es formuliert: "Was, wenn ich bis an mein Lebensende nicht von diesem Zwang freikomme? Das ist ganz wichtig zu klären: Kann mein Partner auch dann mit mir zusammen leben?"


* Name geändert
** Die Tagung fand vom 26. bis 27. September 2014 statt

Ich habe Katrin S. den Text zu lesen gegeben, da ich nur aus der Warte der von Skin Picking Betroffenen sprechen kann. Der Text enthält einige Aussagen über Zwänge, die nur meinen Eindruck wiedergeben, den ich aus dem Seminar mitgenommen habe. Darum hier Katrins Kommentar zu dem Text:

Es lässt sich so pauschal nicht sagen, dass die Partner/Angehörigen grundsätzlich mit ins Zwangssystem einbezogen werden. Auch hier gehören ja immer zwei dazu – der eine, der den Wunsch der Unterstützung äußert und derjenige, der diesem Wunsch nachkommt. Hier ist jeder für sein eigenes Handeln verantwortlich.

Eine lange Zeit machen auch Zwangsbetroffene alles mit sich allein aus, ebenfalls aus Scham. Schwierig wird es erst dann, wenn der Zwang zum einen nicht mehr zu verheimlichen ist (vergleichbar mit dem Sichtbarwerden von Skin Picking), zum Beispiel weil zu viele Zwänge auf einmal auftauchen oder der Zwang an sich zu stark ist, so dass er auch für andere offensichtlich wird.

Dann kann es sein, dass Partner/Angehörige um Unterstützung gebeten werden, weil es dem Betroffenen so scheint, als könne er das alles allein nicht mehr bewältigen. Die Unterstützung des Partners wird dann als Entlastung empfunden. Schwierig ist es ebenfalls, wenn gemeinsame Lebensbereiche betroffen sind – so beispielsweise, wenn Dinge des Anderen berührt werden und der Betroffene dieses nur schlecht oder gar nicht aushalten kann, weil sie für ihn gedanklich „kontaminiert“ sind.

Es gibt aber auch Zwänge, bei denen der Partner fast keine Unterstützung leisten kann, selbst, wenn er es wollte – so ist es beispielsweise bei Gedankenzwängen, bei denen keine sichtbare Handlung erfolgt, sondern allein die Zwangsgedanken gedanklich „bearbeitet“ werden müssen.
Ich weiß nicht, wie es beim Skin Picking ist – ist die eigentliche Handlung manchmal positiv besetzt (so wie es bei der Trichotillomanie manchmal ist)? Wenn es so ist, wäre dies wohl ein Unterscheidungsmerkmal: die Zwangsgedanken und -handlungen werden als quälend und belastend empfunden, das Gefühl der Erleichterung tritt erst ein, nachdem Gedanken und Handlungen durchgeführt und abgeschlossen wurden ... bis zum nächsten Zwangsgedanken.
Wichtig finde ich, dass beide Partner sich immer wieder ihrer eigenen Grenzen (auch Belastungsgrenzen) bewusst werden und diese auch ganz offen kommunizieren, um so zu gemeinsamen Absprachen zu gelangen. Du hast ja ebenfalls beschrieben, dass es eine klare Grenzüberschreitung ist, den Partner beim Picking einzubeziehen, selbst wenn dieser ein klares Nein geäußert hat. Das ist vergleichbar mit der Bitte eines Zwangsbetroffenen an seinen Partner, ihn zu unterstützen oder irgendetwas zu unterlassen. Der Partner kann dann dieser Bitte nachkommen, um dem Betroffenen zu helfen oder auch manchmal, um selbst eben „seine Ruhe zu haben.“ Wenn der Partner jedoch klare Grenzen setzt, wozu er bereit ist und wozu eben nicht, so wäre es für beide Seiten hilfreich, diese Grenzen zu respektieren. Obwohl gerade dies, wie wir ja im Workshop gesehen haben, nicht immer einfach ist.

Selbsthilfe ist grundsätzlich ein guter Berater. Eine Selbsthilfegruppe besuchen, sich mit Hilfe von Literatur schlau machen, eine eigene Zwangshierarchie aufstellen, Expositionen in Eigenregie oder im Rahmen einer ambulanten oder stationären Therapie) durchführen.